Können Nicht-Autisten die Gefühle von Autisten erkennen?

„Hoppla“, denkt jetzt sicher so mancher, „ist das nicht eigentlich andersherum? Dass Autisten keine Gefühle erkennen können?“

Nein, ich meine das ganz genau so, wie ich es schreibe. Zu diesem zugegebenermaßen etwas provokanten Titel hat mich folgender Text der Uni Passau gebracht:
DE-ENIGMA: Roboter bringt autistischen Kindern Gefühle bei
Das geht schon mit der Überschrift los – man muss Autisten Gefühle nicht beibringen. Sie haben genauso Gefühle wie jeder andere, können sie aber unter Umständen nicht direkt „greifen“ oder in Worte fassen oder eben so zeigen, dass andere sie auf Anhieb verstehen.
Im Text steht:

Berichtet das Kind von einem großartigen Tag, freut sich aber nicht, reagiert der Roboter zum Beispiel darauf, indem er die passende Emotion demonstriert. Denn Ziel der Therapie ist es, dem Kind sozioemotionale Fähigkeiten beizubringen. Es soll lernen, welche Emotionen in der jeweiligen Situation angemessen sind, diese erkennen und auch zeigen.

Schauen wir uns das also mal näher an:
Das Kind berichtet von einem tollen Tag, freut sich aber nicht für das Umfeld offensichtlich. Dieser Satz war das, was mich auf die Überschrift brachte. Kam den Forschern schon mal die Idee, dass Autisten Gefühle vielleicht einfach anders ausdrücken? Warum reicht es nicht als Ausdruck von Freude, dass das Kind Positives berichtet?
Wenn ich von etwas erzähle und dabei positive Dinge sage, dann ist für mich klar, dass ich es gut finde. Wenn ich sage „ich freue mich darüber“, dann meine ich das so. Wenn ich sage „ich finde, es wäre eine super Idee, das mal zu machen“, dann bin ich davon begeistert. Wenn ich zu einem Geburtstagsgeschenk sage „danke“ und das Gegenüber anlächle, drücke ich Freude aus. Und ich fände wirklich toll, wenn mein Umfeld akzeptieren könnte, dass da dieselben Emotionen dahinterstecken wie bei Menschen, die dann vor Freude durch den Raum hopsen, mit den Armen wedeln, den Schenker vor Freude fast erdrücken oder welche Reaktion jemand jetzt auch immer für „angemessen“ hält?
In Zeiten, in denen von Inklusion (siehe auch meine Artikel hier und hier) und Teilhabe die Rede ist, finde ich den Ansatz schlichtweg „verkehrt herum“. Er setzt voraus, dass der Autist sich anzupassen hat anstatt dass die Welt einfach mal etwas offener wird. Das Kind lernt dabei dann noch, dass seine natürliche Reaktion irgendwie falsch ist.
Auch der dritte Satz wirft Fragen auf: Wer legt denn fest, welche Reaktionen „angemessen“ sind? Warum müssen sie auf die von anderen erwartete Art „gezeigt“ werden?

Ich arbeite auch seit Jahren mit Therapeuten daran, meine Gefühle besser „greifen“ zu können. Ich habe lange als Antwort auf die Frage „wie geht es dir/ Ihnen“ eigentlich nur die Antworten a) gut, b) schlecht und c) ok/ egal gehabt, wobei ich in der Regel gut mit fröhlich und schlecht mit traurig oder evtl. noch wütend identifiziert habe. Meist war meine Antwort „ok“, weil es halt weder toll war noch besonders schlecht. Den Satz „Ok ist kein Gefühl, Frau Gedankenkarrussel“ von meinem Bezugstherapeuten in der Klinik werde ich wahrscheinlich nie vergessen :-D. Damals begann ich zu lernen, Gefühle etwas genauer zu benennen.
Mit meiner jetzigen Therapeutin arbeite ich weiter an dem Thema, und das schon recht lange. Wir schauen uns an, welche Gefühle ich in einer bestimmten Situation hatte (≠ „laut irgendwem haben sollte“!), d.h. wir benennen sie überhaupt erst einmal. Dann schauen wir, ob sie „angemessen“ sind, u.a. auch in ihrer Intensität oder Äußerungsform. Wichtig ist mir aber, dass die Bezugsgröße für die Angemessenheit nicht ist „was hält jemand für normal“, sondern „was passt für mich in dieser Situation, damit es mir damit gut geht und ich im Umfeld klarkomme“. Das sind aber Dinge, die ich mit meiner Therapeutin zusammen erarbeite.

Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass zum Erarbeiten so eines Themas ein Roboter hilfreich ist. Vielleicht könnte es manchen Menschen tatsächlich helfen, an einem Roboter „gefahrlos“ ausprobieren zu können, ob eine gezeigte Emotion auch als diese erkannt wird, oder Emotionen bei anderen zu erkennen. Aber um herauszuarbeiten, ob eine (eigene) Emotion „angemessen“ ist? Oder um herauszufinden, was die eigene Emotion gerade überhaupt ist? Seriously?

Ich habe im Übrigen auch nicht grundsätzlich etwas gegen Sozialkompetenztrainings und meinetwegen kann man sogar diskutieren, ob es dabei einen sinnvollen Einsatz für Roboter geben kann. Nur ist das oben genannte kein Sozialkompetenztraining, sondern ein Versuch, den Autisten der Welt anzupassen. Ein (gutes, an Autisten angepasstes) Sozialkompetenztraining hingegen geht einerseits viel weiter und andererseits auch viel weniger weit: Es werden die Situationen genau betrachtet, es wird überlegt und erklärt, wer wie warum wann reagiert und wie eine eigene Reaktion aussehen könnte, die auch das Gegenüber „versteht“. Es kann möglicherweise tatsächlich auch besprochen werden, wie das Kind z.B. Freude über ein Geschenk ausdrücken kann. ABER: Ein Sozialkompetenztraining schreibt nicht vor, welche Emotion man zu empfinden hat. Es gibt auch in der Regel nicht nur eine einzige „passende Emotion“. Es unterstellt nicht, dass eine Person sich nicht freut, nur weil sie es nicht für andere erkennbar zeigt.

Vielleicht sollte man Robotern ja beibringen, die Gefühle zu erkennen, die Autisten auf andere Art zeigen als von Nicht-Autisten erwartet? Diese Roboter könnten dann den Nicht-Autisten beibringen, die Emotionen der Autisten zu erkennen…

Ansonsten gibt es mir auch zu denken, dass man bei der Uni Passau offenbar selbst nicht genau wusste, welche Ethikkommission die Studie genehmigt hat, sondern lediglich auf übergeordnete Stellen verweisen konnte:

Auch die Beteiligung von Autisten in der Planung dürfte mehr indirekter Natur gewesen sein. Die Studie gehört zum Projekt DE-ENIGMA. Abgesehen von Forschungseinrichtungen gehört dort „Autism Europe“ zu den Beteiligten. Diese Organisation versteht sich als „international association whose main objective is to advance the rights of people with autism and their families and to help them improve their quality of life“. Klingt erstmal nicht schlecht, aber die Selbstvertretung scheint eher schwach vertreten zu sein. Für Deutschland ist Autismus Deutschland dabei, wo die Ansichten von Autisten leider oft keinen allzu hohen Stellenwert haben. Besonders gegen Autism Europe spricht in meinen Augen allerdings, dass sie auf ABA beruhende Therapien gerne europaweit fördern möchten und eine entsprechende Deklaration auch ins Europaparlament eingebracht haben (hinter „early and intensive intervention can help overcome the symptoms of autism“ verbirgt sich als Grundlage ABA).

Bezüglich der Forschung finde ich die Einstellung von Morton Ann Gernsbacher (ehemalige Präsidentin der Association for Psychological Science bzw. American Psychological Society) klasse, die u.a. eine „presidential column“ mit dem Titel The True Meaning of Research Participation verfasst hat. Sie schreibt:

… However, autistics are almost never consulted by autism researchers (thereby violating the mantra of disability rights, „Nothing About Us, Without Us“), and often they are explicitly excluded. Ms. Dawson* has documented Canadian research conferences that barred autistics from attending but curiously welcomed parents of autistic minors as expert contributors.
Why haven’t autistics‘ own voices been heard? Why haven’t autistics been as actively recruited to participate in all aspects of the research process as they’ve been recruited to participate as research subjects…?

Sie nennt auch mögliche Gründe dafür. Ein weiterer Grund, den ich sehe: Autisten in die Forschung einzubeziehen ist sicher nicht immer bequem. Bezüglich Forschungszielen wie „Heilung“, vorgeburtliche Selektion oder Therapien/ Therapiezielen (insbesondere ABA) haben Autisten oft andere Ansichten, die man dann halt lieber ignoriert.
M. A. Gernsbacher sieht das ernsthafte Einbeziehen autistischer Forscher als „ethical imperative“ an, sieht aber auch eine wissenschaftliche Motivation.
Von ihrer Grundeinstellung könnte sich mancher eine Scheibe abschneiden:

These days, I wouldn’t fathom submitting an article (or even one of my APS Presidential columns) without first seeking her* no-holds-barred critique.

* Sie bezieht sich auf die Autistin und Wissenschaftlerin Michelle Dawson von der Autism Research Group der Universität Montreal, die auch unter @autismcrisis sehr aktiv auf Twitter ist.

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Über gedankenkarrussel

zwischen 25 und 35, Christ, naturwissenschaftlich interessiert, Aspergerautistin im Kampf mit der Müdigkeit... (darüber schreibe ich mehr in meinem Blog https://gedankenkarrussel.wordpress.com/ )
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9 Antworten zu Können Nicht-Autisten die Gefühle von Autisten erkennen?

  1. autistanbord schreibt:

    Ich finde das sehr interessant, und auch gut geschrieben!
    Ich denke bei „Gefühle anders ausdrücken“ triffst du genau den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf. Ich hatte immer wieder die Situation, in der mich jemand, mit dem ich länger zu tun hatte, plötzlich fragte: „Was hab ich gemacht? Du bist auf einmal ständig sauer.“ Dabei war eigentlich das Gegenteil der Fall. Irgendwann machte es „Klick“ – wenn ich eine bestimmten Grad der Vertrautheit erreicht hatte, sodass ich in der Gegenwart einer Person weniger angespannt war, ließ ich viele erlernte NT-tauglicher Ausdrucksformen einfach fallen… Das führte zu stark reduzierter Mimik und flacherem Tonfall, und das wiederum wurde dann fehlinterpretiert.

    Zu dem Roboter: Es ist meine Meinung, dass wir schon zu einem Grad in der Pflicht sind, uns anzupassen – die Welt ist halt nun mal größtenteils nicht-autistisch. Wie weit dieser Grad für jeden Einzelnen geht sollte individuell sein. Mir war die Möglichkeit, durch Gefühle und Reaktionen so vermitteln zu können, relativ wichtig, da ich es als effizienter empfunden habe (und in vielen Situationen noch empfinde). Ich hätte mich über einen solchen Roboter gefreut. Ich verbrachte damals unmengen an Stunden mit Roman in der Hand und Romanverfilmung auf VHS-Cassette mit dem Vergleichen des im Buch beschriebenen mit dem auf dem Bildschirm zu sehenden… in langer Analyse und mit dem Bandspulsalattod mancher VHS-Cassetten endend. Für alle ganz nutzlos wäre er, glaube ich, nicht.

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    • gedankenkarrussel schreibt:

      Mir wurde früher oft gesagt, ich sei z.B. unfreundlich…

      Ich hatte ja auch ein, zwei Beispiele genannt, wo ich mir einen Robotereinsatz unter Umständen vorstellen könnte:
      „Vielleicht könnte es manchen Menschen tatsächlich helfen, an einem Roboter „gefahrlos“ ausprobieren zu können, ob eine gezeigte Emotion auch als diese erkannt wird, oder Emotionen bei anderen zu erkennen.“
      Wie würdest du ihn (darüber hinaus?) gerne einsetzen?

      Ich finde ja auch durchaus sinnvoll, dass es sowas wie z.B. Sozialkompetenztraining gibt, aber halt wie oben beschrieben u.a. mit Erklärungen und auch nicht mit dem Ziel, schon das Erleben anzupassen. Und ja, sicher sollten auch wir uns Mühe geben, dass andere „uns“ verstehen – und gleichzeitig sollte die Gesellschaft mMn einen Schritt auf „uns“ zu machen. Bei Twitter schrieb jemand sehr treffend, dass die Ausdrucksweise ja auch sehr vom kulturellen Umfeld abhängt. Schon allein deshalb würde es keinem Menschen schaden, in diesem Bereich ein wenig Offenheit mitzubringen.

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      • autistanbord schreibt:

        „Ausdrucksweise vom kulturellen Umfeld“ – Ha, ja! Ich komme ja aus einem Berufsfeld, in dem Miteinbeziehen dieser kulturellen Unterschiede in der Ausdrucksweise Pflicht ist… lustigerweise haben wir einen recht hohen Autistenanteil! Ich fand übrigens an der Uni gerade die Vorlesungen zu diesen Themen, in denen auch aufgeschlüsselt wurde, wie sich diese Ausdrucksweisen usw. entwickelt haben wahnsinnig hilfreich.

        Wenn ich mir was wünschen könnte, würde ich den Roboter gerne in einem Repertoire an Mitteln sehen, aus denen sich jeder nach eigener Neigung und Lernweise und -wünschen zusammenstellen kann, was er möchte. Was ich gar nicht mag, ist das „verordnen“ von oben. Ich denke bei Nutzung ohne Zwang / Vorschrift könnte das z. B. der eine zum eigenen Üben (oder auch einfach zum Bestätigen / nachprüfen – wäre das jetzt „passend“?) nutzen, der andere vielleicht, eher, um die eigene Interpretation des gesehenen zu verbessern (Das würde mir z. B. heute auch nicht schaden…). Ich würde mir allgemein wünschen, dass man (ganz und gar nicht beschränkt auf Autisten) überhaupt mal eine echte Wahlmöglichkeit bei den genutzten Hilfsmitteln hätte – ohne, dass jeder sich selbst „das Rad neu erfinden“ muss.

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      • gedankenkarrussel schreibt:

        Du kannst das der Uni Passsau und diesem Projekt ja mal als sinnvolle(re) Anwendungsfelder vorschlagen^^.

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      • autistanbord schreibt:

        Erst muss ich morgen meinen Schreinerüberfall überleben! (Also nicht ich den Schreiner… sondern eher er mich zum Möbelaufstellen.) Vorher hab ich die Konzentration dazu nicht.

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      • gedankenkarrussel schreibt:

        Viel Erfolg und gute Nerven für morgen!

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      • autistanbord schreibt:

        Danke! Hat ja nur ca. 9 Monate gedauert seit Bestellung… 😉

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