Autismus und Camouflaging

Unter „Camouflaging“ versteht man hier, dass der Autismus verborgen oder „maskiert“ wird – die autistische Person tut also möglichst so, als sei sie nicht autistisch. Dafür gibt es verschiedene Gründe, zum Beispiel schlechte Erfahrungen mit Ausgrenzungen oder Mobbing.
Dass es extrem anstrengend ist, sich die ganze Zeit zu verstellen, und dass das psychische Probleme mit sich bringen kann, sagen Autisten schon lange. Vor einiger Zeit gab es auf Twitter die Hashtags #DieMaskeAbnehmen bzw. #TakeTheMaskOff und die Autistin laviolaine hat auch einen Blogtext dazu geschrieben.
Der Begriff „Camouflaging“ überschneidet sich in diesem Kontext größtenteils mit dem Begriff „Kompensation“. Ich verwende hier im Text zum Teil auch das Wort „Maskieren“ synonym.

In der Forschung wurde und wird das Thema bislang eher stiefmütterlich behandelt, auch wenn es mittlerweile immerhin ein bisschen Forschung dazu gibt. (Wobei man allerdings sagen muss, dass es mit Sicherheit etliche Forscher gibt, die an derartiger Forschung allein schon deshalb kein Interesse haben, weil die Ergebnisse ihre Arbeit massiv in Frage stellen – namentlich alle Forscher (und Kliniker), die normangleichende Therapien wie ABA im Angebot haben…)

Ein paar der Studien zum Thema Camouflaging möchte ich euch in diesem Blogtext (teilweise kurz, teilweise etwas ausführlicher) vorstellen, denn das Thema ist für den Alltag von Autisten sehr wichtig – übrigens auch im Hinblick auf die Diagnostik insbesondere erwachsener Autisten (und besonders Autistinnen), die über Jahr(zehnt)e gelernt haben, sich anzupassen, und daher nach außen hin erst einmal unauffällig erscheinen.

  • 2016 erschien die Studie Quantifying and exploring camouflaging in men and women with autism (Open Access). Hierbei wurden 60 erwachsene Autistinnen und Autisten (ohne Lern- oder geistige Behinderung) untersucht. Camouflaging wird hier operationalisiert, und zwar als die Diskrepanz zwischen dem äußeren Erscheinen (‚external‘ behavioural presentation) einer Person (gemessen mit dem ADOS) und dem inneren Zustand (‚internal‘ status), gemessen mit Autismus-Quotient (AQ) und „Reading the Mind in the Eyes“-Test (RMET). Es fand sich kein Zusammenhang von Camouflaging mit Alter oder IQ, Frauen zeigten im Durchschnitt mehr Camouflaging als Männer, auch wenn die Variabilität in beiden Gruppen hoch war. Stärkeres Maskieren war bei Männern mit stärkeren depressiven Symptomen verbunden (bei Frauen mit besserer Sensitivität bei Signalerkennnung), diese Studie fand keinen Zusammenhang zwischen Ängsten (Anxiety) und Camouflaging. Außerdem wird auf neuro-anatomische Zusammenhänge eingegangen, die aber in diesem Artikel nicht mein Thema sein sollen.
    In dem Paper findet sich auch ein Hinweis auf Auswirkungen für die Diagnostik: „Camouflaging may also play a role in the observed male-preponderance in autism prevalence, if it is the case that females are more likely or more motivated to camouflage, and thereby go undetected and undiagnosed for longer.“
    Laut den Autoren ist es die erste Studie, die Camouflaging erforscht und quantifiziert, weshalb man die Ergebnisse mit Vorsicht betrachten sollte.
    Sie schließen mit: „A thorough understanding of camouflaging in autism may improve the diagnosis of autism across sex/gender, the identification of needs and assets for each person and the tailored individualized supports.“
  • Die nächste hier vorgestellte Studie ist vom Mai 2017 und hat zum Teil dieselben Autoren. Sie trägt den Titel „Putting on My Best Normal“: Social Camouflaging in Adults with Autism Spectrum Conditions (Open Access).
    Der Fokus lag auf Art („nature“), Motivation und Konsequenzen des Maskierens. Die Motive beinhalteten, sich einzufügen und die Verbindungen mit anderen zu erhöhen. Das Camouflaging bestand aus einer Kombination von Maskieren und Kompensationstechniken. Die kurz- und langfristigen Konsequenzen beinhalteten Erschöpfung, herausfordende Stereotype und Probleme mit dem Selbstbild und der eigenen Identität – und auch Probleme beim Zugang zu Unterstützungsangeboten.
    Teilgenommen haben 92 autistische Personen (ab 16 Jahren) aus 15 Ländern.
    Zur Messung wurde ein neu entwickelte Fragebogen zu Camouflaging verwendet.
    Es lohnt sich, den Text zu lesen, da dort die Ergebnisse samt Beispielen für Antworten detailliert beschrieben werden.
  • Die im Oktober 2017 erschienene Studie Experiences of Autism Acceptance and Mental Health in Autistic Adults (Open Access) trägt zwar das Wort Camouflaging nicht im Titel, aber es ist – zu Recht – bei den Keywords dabei. Wenn man die psychische Verfassung von Autisten untersucht, ist Camouflaging ein relevantes Thema.
    Die Analysen ergaben, dass die Akzeptanz des Autismus durch Dritte und die eigene Akzeptanz der Diagnose sich zur Vorhersage von Depressionen eignen. Außerdem ergab sich die Vermutung, dass Camouflaging zu mehr Depressionen führen könnte.
    Fazit des Abstracts: „The current study highlights the importance of considering how autism acceptance could contribute to mental health in autism.“
    Am Ende in der Diskussion äußern sich die Autoren u. a. auch zu Interventionen:
    „Interventions designed to improve family and/ or peer support should be tested, as well as those intended to boost personal acceptance or self-esteem. … We would particularly advocate for interventions designed alongside autistic people, with a focus on neurodiversity. Wider societal acceptance should also be strived for to reduce the need for autistic adults to camouflage, and instead be accepted as they are.“
  • Aus dem Juli 2018 stammt das Paper Risk markers for suicidality in autistic adults (Open Access).
    Bei den Ergebnissen fand sich unter anderem, dass Camouflaging (und nicht erfüllter Bedarf an Unterstützung) signifikant mit dem Suizidrisiko zusammenhängt – und diese beiden Punkte scheinen (anders als andere Risikofaktoren) hauptsächlich bei Autisten zuzutreffen.
    Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden hier etwas detaillierter aufgeschlüsselt: Es gab keinen Unterschied bei der Frage, ob Camouflage-Techniken angewendet werden, aber Autistinnen berichteten, dass sie in mehr Situationen, häufiger und länger maskierten.
    Auch zu der Aussage, dass angeblich Autisten wenig Interesse an Sozialkontakten haben, sowie zum Thema Akzeptanz äußern sich die Autoren:
    „Importantly, our findings challenge the assumption that autistic people are socially unmotivated, consistent with calls for more accurate and useful autism research, embracing the unique nature of social interest in autism. It is perhaps more accurate to acknowledge a “double empathy problem”, where autistic people are misinterpreted by non-autistic people and vice versa, which contribute to feelings of isolation among autistic people. Increasing acceptance of autistic people in society could therefore lead to a reduced need for camouflaging and increased feelings of belonging — a protective factor for suicidality.“
  • Das vorletzte hier vorgestellte Paper (erschienen im Herbst 2018) handelt von der Entwicklung eines entsprechenden Fragebogens, mit dem Camouflaging gemessen werden kann: Development and Validation of the Camouflaging Autistic Traits Questionnaire (CAT-Q) (Open Access)
    Der Fragebogen wurde anhand der Camouflaging-Erfahrungen erwachsenener Autisten entwickelt und online an mehr als 800 Personen (davon etwas weniger als die Hälfte autistisch) psychometrisch getestet.
    Im Paper finden sich auf die verwendeten Items. Der Fragebogen selbst findet sich unter Supplementary material.
  • Das Paper Understanding the Reasons, Contexts and Costs of Camouflaging for Autistic Adults (Open Access) lief mir heute auf Twitter über den Weg. Da ich dazu bereits eine Tweetkette geschrieben habe, kopiere ich nur (mit kleinen Anpassungen) den Text hier rein:
    Es geht darum, warum Autisten ihren Autismus zu maskieren versuchen,und was das für Konsequenzen hat (im Alltag, aber es wird auch auf die Diagnostik eingegangen).
    Hauptgründe fürs Maskieren:
    1. „Fitting in and passing in a neurotypical world“
    2. „Avoiding retaliation and bullying by others“
    3. „Concerns about impression made when not camouflaging“

    Ziemlich bedenklich…

    Es wurde bei der Auswertung in 3 Gruppen eingeteilt: viel Camouflaging – in manchen Situationen ja, in anderen Nein – wenig Camouflaging
    Bei den ersten beiden Gruppen gab es bzgl. Stress und Ängsten keinen Unterschied (beides hoch), bei der dritten war es deutlich weniger. Für Depressionen fand sich in dieser Studie kein Unterschied, was im Widerspruch zu anderen Ergebnissen steht und weiter untersucht werden muss.

    Die Implikationen aus der Diskussion:
    Erste Implikation, Thema ‚Probleme bei der Diagnostik‘: „This study also has several clinical implications. First, in terms of diagnosis of autism, particularly for women and those seeking diagnosis in adulthood, clinicians should be aware of the presence of camouflaging behaviours. “
    Zweite Implikation: „Second, when treating the comorbid mental health conditions…, it would be important for the clinician to discuss whether camouflaging is impacting on the individual’s psychological wellbeing, and if so, support the individual to identify strategies to reduce camouflaging“
    Außerdem: „Further, clinicians should understand the ways in which camouflaging can be a maladaptive strategy, given the significant costs to psychological wellbeing that have been identified.“

    Das Fazit ist deutlich und toll:
    „However, for autistic people, the potentially adaptive aspects of camouflaging ultimately reflect the lack of understanding produced by the neurotypical world, and the immense effort that those that do not fit into that world must make in order to “pass”, avoid being bullied or have their work recognised. Perhaps clinicians could keep in mind methods of support that help autistic people to succeed as autistic people, rather than autistic people masquerading as neurotypicals.“ [Hervorhebung von mir]

Was mir in all diesen Texten positiv auffiel: Das starke Einbeziehen von Autisten selbst und die Verwendung von „Identity first“-Sprache. Zwischen dieser „Auffälligkeit“ und der Tatsache, dass es in den Texten um konkrete Probleme von Autisten geht (und nicht um „Heilung“ oder Genetik zwecks Ausrottung von Autisten) sehe ich durchaus einen Zusammenhang 😉
Dass sie allesamt Open Access sind, ist natürlich auch klasse.

Über gedankenkarrussel

zwischen 25 und 35, Christ, naturwissenschaftlich interessiert, Aspergerautistin im Kampf mit der Müdigkeit... (darüber schreibe ich mehr in meinem Blog https://gedankenkarrussel.wordpress.com/ )
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9 Antworten zu Autismus und Camouflaging

  1. semilocon schreibt:

    Hat dies auf Semilocon rebloggt und kommentierte:
    Relevante Forschung!

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  2. Sarinijha schreibt:

    Vielen Dank für diesen interessanten Blogbeitrag. Er ist mir heute erst aufgefallen, daher mein doch recht später Kommentar. Nach meinem Gefühl und nach meiner Erfahrung ist das Maskieren wirklich sehr schädlich; zumindest bei mir hat es ja eine Identitätskrise und Depressionen ausgelöst. Nach logischem Denken kann es ja auch nicht gut für die Seele sein, wenn jemand seine Art und Weise ständig vor anderen Menschen verstecken muss. Ich will auf jeden Fall auch weiter daran arbeiten, in Zukunft wieder weniger zu kompensieren; wobei dieser Weg gar nicht so leicht ist. Durch schlechte Erfahrungen, wie Mobbing, falle ich immer wieder sehr schnell ins Maskieren zurück.

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    • gedankenkarrussel schreibt:

      Es gibt ja auch den Begriff „autistic burnout“. Da dürfte das ständige Maskieren auch einen erheblichen Anteil daran haben.
      Ich maskiere seit der Diagnose zunehmend weniger. Früher fühlte ich mich quasi verpflichtet dazu, und zwar immer. Mittlerweile nehme ich mir da die Freiheit, das nicht mehr immer zu tun. Es gibt Situationen, wo ich es weiterhin tue, weil ich momentan keine andere Möglichkeit sehe. Aber eben auch etliche Situationen, wo ich es nicht mehr so stark mache. Und das schafft schon einiges an Entlastung.

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  7. Konstanze Schromm schreibt:

    Ganz wichtig ist, dass Personen die (noch) nicht wissen, dass sie Autist*Innen sind, auch gar nicht bemerken, wie sehr sie maskieren. Man versucht, sich normal zu benehmen, glaubt, man macht ständig was falsch, muss sich mehr bemühen, dann wird alles gut. Das maskieren ist so zum Alltag geworden, dass nicht einmal Psychologinnen im Gespräch mit einem etwas bemerken. Besonders bei hochbegabten, weiblichen Autist*Innen ist Autismus schwer zu diagnostizieren, glücklicherweise gibt es seit einiger Zeit sehr gute Tests und Psychologinnen müssen sich nicht nur auf ihr „Gespür“ verlassen.

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