„Ich bin nicht behindert, ich werde behindert“. Wirklich?

Ist Autismus eine Behinderung? Und ist nicht „behindert“ überhaupt eine Abwertung – sollte man nicht lieber von „besonders“ sprechen?

(Anmerkung: Ich habe mit dem Text im Herbst angefangen, daher sind die zitierten Tweets vom Herbst. Aber fertig wurde er erst jetzt…)

Ich stolperte mal wieder über das soziale Modell von Behinderung. An sich finde ich den Ansatz gut und wichtig, dass man schaut, wo Menschen durch Barrieren jeglicher Art, Vorurteile etc. behindert werden. Und auch, dass es nicht darum geht, den behinderten Menschen zu „reparieren“, wie das „Therapien“ wie das von den meisten Autisten stark abgelehnte ABA und diverse Quacksalber (beispielsweise MMS-Verkäufer) zum Ziel haben.
Nur leider schießen manche da übers Ziel hinaus und vertreten die Ansicht, dass alle Behinderungen nur sozial bedingt sind. Das impliziert, dass in einer perfekten Umgebung niemand mehr behindert wäre.
Es gibt viele Dinge, die man ändern könnte, um mir das Leben massiv zu erleichtern. Weniger Behördenzirkus und kein allein schon durch benötigte Eingliederungshilfe erzwungener niedriger Lebensstandard inklusive. (Momentan hätte ich eh nicht mehr, aber falls ich hoffentlich irgendwann arbeiten kann, wird das Thema schnell aktuell.) Ein bisschen was zu Barrierefreiheit habe ich in verschiedenen Artikeln auch schon geschrieben.
Die behinderungsbedingten Einschränkungen in meinem Leben könnten dadurch drastisch verringert werden.
ABER sie würden nicht vollständig verschwinden. Das ist einfach nicht möglich. Beispielsweise können Leute noch so lieb und nett und rücksichtsvoll und mir vertraut sein – oft wird es mir aber trotzdem zu viel. Dann ist es super, wenn es Verständnis und eine Rückzugsmöglichkeit gibt -> die Folgen der Behinderung werden dadurch massiv verringert. Es ändert aber nichts daran, dass ich vielleicht gerne dabei (und nicht in einem Rückzugsraum) sein würde, es aber einfach nicht kann, weil alles zu viel ist. Selbst wenn die Beleuchtung angenehm ist, keine störenden Geräusche sind etc.
Insofern sehe ich eine gewisse Gefahr darin, wenn das soziale Modell überbetont wird. Weil dann das Risiko besteht, dass Probleme kleingeredet und negiert werden und die Leute sich „nur nicht so anstellen“ sollen.

Bei mir ist es so, und ich habe es auch von anderen Autisten schon öfter so gehört.
Andere sehen das aber teilweise anders. Ich habe mal bei Twitter gefragt:

Die Frage lässt sich nicht allgemeingültig und für alle beantworten. Jeder wird, kann und darf das subjektiv empfinden, wie es für ihn passt. Aber jedes Modell kann missbraucht werden. Das soziale Modell birgt die Gefahr, dass Einschränkungen fälschlich kleingeredet werden. Beim medizinischen Modell hingegen werden Defizite eher überbetont und es gibt meist eine Tendenz, alles unbedingt heilen oder reparieren zu wollen. Es gibt sicher Krankheiten und Behinderungen, wo sich die (meisten?) Betroffenen Heilung wünschen. Wo dringend mehr Forschung nötig wäre, auch wenn sie vielleicht finanziell nicht besonders lohnend ist. Aber es muss auch respektiert werden, dass das nicht jeder so sieht. Für die meisten Autisten ist ihr Autismus (wie auch für mich) untrennbar mit ihrer Persönlichkeit verbunden, weshalb sie mehrheitlich auch „Identity first“-Sprache (also „Autist“ und nicht „Mensch mit Autismus) bevorzugen; siehe dazu ein Artikel bei fotobus. Cochlear-Implantate sind in der Gehörlosencommunity sehr umstritten.
Meiner Ansicht nach haben beide Modelle ihre Berechtigung. Jedes hat positive, aber auch negative Aspekte. Sich nur auf eines dieser Modelle zu versteifen, wird aber der Sache nicht immer vollständig gerecht.
(Der Vollständigkeit halber: Es gibt auch noch ein kulturelles Modell von Behinderung, mit dem ich mich aber nicht im Detail befasst habe.)

Insofern:
Ja, in vielen Bereich kann ich sagen „ich werde behindert“.
Nein, die Aussage „ich bin nicht behindert“ kann ich für mich nicht unterschreiben.

Und noch was zu den Begrifflichkeiten: Ich bin behindert. Nicht „besonders“ oder „speziell“. Oder zumindest nicht mehr „besonders“ oder „speziell“ als andere. „Behindert“ ist erst einmal neutrale Beschreibung meines Zustands. Ja, der Begriff wird oft abwertend oder als Schimpfwort genutzt. Aber die Einstellung der Leute zu Behinderungen ändert sich nicht, nur weil man einen Begriff ändert. Insofern halte ich es nicht für sinnvoll, in die Euphemismus-Tretmühle zu tappen und ständig neue Begriffe zu erfinden. Wir sollten uns meiner Meinung nach viel mehr dafür einsetzen, dass das Wort „Behinderung“ so verwendet wird, wie es gemeint ist: Als sachliche Beschreibung eines Zustands.
Und darum sage ich „ich bin behindert“.

Über gedankenkarrussel

zwischen 25 und 35, Christ, naturwissenschaftlich interessiert, Aspergerautistin im Kampf mit der Müdigkeit... (darüber schreibe ich mehr in meinem Blog https://gedankenkarrussel.wordpress.com/ )
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2 Antworten zu „Ich bin nicht behindert, ich werde behindert“. Wirklich?

  1. semilocon schreibt:

    Hat dies auf Semilocon rebloggt.

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  2. Volle Zustimmung. Die Festlegung ausschließlich auf das soziale Modell birgt die Gefahr, dass unerfüllbare Erwartungen entstehen (übertrieben gesagt: der blinde Taxifahrer, weil: wir haben doch die Inklusion, da darf ich das dürfen). Außerdem gibt es die Tendenz, Behinderungen auf eine interessante Variante des Andersseins herunterzuverharmlosen, die – wenn alle ganz, ganz empathisch sind – für alle Seiten zu einer Win-Win-Situation werden kann (Stichwort: Inspiration Porn).

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