Was ist an ABA eigentlich so schlimm?

Als ich vor Jahren zum ersten Mal von ABA hörte und las, stellte ich mir diese Frage. Damals wusste ich noch nicht mal, dass ich selbst Autistin bin, und hatte auch sonst noch praktisch kein Wissen dazu.

Es klang doch gut, dass man die Situation analysiert, die zu problematischem Verhalten wie Aggressionen gegen sich und andere führt, und dass man dann bessere Alternativen einübt. Ich las davon, dass es darum ginge, dass das Kind in seiner Umgebung besser zurecht kommt. Und dass es gerade bei Kindern mit schweren geistigen Einschränkungen fast alternativlos sei, denn mit Erklärungen käme man ja hier nicht weiter – da sei es doch besser, am Verhalten des Kindes zu arbeiten anstatt es zu fixieren oder mit Medikamenten ruhigzustellen. Außerdem sei die Methode evidenzbasiert, und das passte gut zu meinem eher sachorientierten und wissenschaftlichen Denken.

Klingt doch eigentlich erstmal prima oder zumindest nicht schlecht – oder? Warum nur waren manche Leute so vehement dagegen?

Mir war so vieles nicht klar:
Ich hatte in meiner Naivität angenommen, dass derartige Methoden primär für extrem problematisches Verhalten angewendet würden, wozu in meinen Augen praktisch ausschließlich akut selbst- und fremdgefährdendes Verhalten gehörte. Das war das, was ich unter „in der Umgebung zurechtkommen“ verstand, denn schließlich möchte keiner von einem autistischen Kind getreten oder geschlagen werden oder zusehen, wie sein Kind den Kopf auf den Boden haut.
Ich kam überhaupt nicht auf die Idee, dass ABA über viele Stunden bis hin zur gesamten Wachzeit des Kindes angewendet werden sollte.
Es erschien mir also auch ziemlich abwegig, es für Dinge wie Blickkontakt antrainieren oder ähnliches zu nutzen.
Mir war nicht bewusst, dass hauptsächlich das Kind verändert (oder besser: manipuliert) werden soll, und dass man nicht primär auf die Anpassung der Umgebung oder Erklärungen setzt; dass es also eigentlich hauptsächlich um den Aufbau einer Fassade geht, siehe auch der zweite Punkt in der Aufzählung weiter unten.
Ich realisierte nicht, was für eine starke Lobby und was für finanzielle Interessen dahinter steckten.

Das alles sind Dinge, die mir erst im Laufe der Zeit klarwurden, und zu einigen Punkten möchte ich im Folgenden etwas schreiben:

Als ich mich weiter mit dem Thema befasste, stellte ich auch fest, dass oft Begriffe (bewusst?!?) durcheinander geworfen werden – so wird von ABA-Anbietern und -Befürwortern häufig der Begriff „Verhaltenstherapie“ verwendet, worunter die meisten Menschen sich vermutlich nicht ABA, sondern kognitive Verhaltenstherapie vorstellen (also das, was die Krankenkasse auch bezahlt und wo man in der Regel einmal in der Woche 50 Minuten mit dem Therapeuten hat).
Auch ist es oft verwirrend, dass Konzepte natürlich auf verschiedene Weisen angewendet werden können. Der TEACCH-Ansatz kann verwendet werden, um dem Kind Strukturierungshilfen zu geben, er kann aber auch im Rahmen von ABA eingesetzt werden. Bei PECS denkt man oft nur an „Kommunikation mit Bildkarten“, ohne dass klar ist, dass auch dort ABA dahinter steckt. (Eine unterstützte Kommunikation mit Bildkarten ist grundsätzlich prima! Nur bitte ohne ABA.)

Konditionierung hatten wir in der Schule an den klassischen Beispielen mit Pawlows Hund, Skinners Ratten und dem Little-Albert-Experiment, „Behaviorismus“ kannte ich als Begriff gar nicht. Dieser ist übrigens nach Ansicht des bekannten Autismus-Forschers Simon Baron-Cohen überholt.

Ich sehe auch viele weitere Probleme, die ich jetzt nur anreiße bzw. zu denen ich weitere Links angebe:

    • Es heißt immer wieder, dass „erlerntes autistisches Verhalten gelöscht“ werden soll. Autistisches Verhalten ist erlernt? Das Verhalten basiert auf einer anderen Verarbeitung im Gehirn und ist – macht man sich einmal die Mühe, auf die Ursachen zu schauen – eine durchaus logische Reaktion auf das, was passiert, auf das Umfeld. Von daher halte ich es für viel sinnvoller, die Umgebung zu verändern und zu erklären anstatt das Verhalten durch Konditionierung zu „löschen“ und zu ersetzen.
      Gemäß dem Buch „Eltern als Therapeuten von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen“ von Dr. Mickey Keenan et al. schließt der Begriff „Verhalten“ übrigens wesentlich mehr ein, als der Durchschnittsmensch spontan denkt (S. 51):

      Der Begriff „Verhalten“ wiederum umschreibt das gesamte „Tun“ von Menschen.
      In den meisten Fällen kann Verhalten beobachtet und erfasst werden, dies gilt etwa für Tätigkeiten wie Spielen oder Sprechen. Daneben gibt es manche Verhaltensweisen, die nicht direkt beobachtet werden können. Sie ereignen sich – wie Gefühle oder Gedanken – im Inneren der Person. Dennoch: Auch solche Verhaltensweisen können analysiert und – falls nötig – verändert werden.

      Es soll also offenbar so ziemlich der ganze Mensch verändert werden.

    • Die Ziele werden von Eltern und Therapeuten definiert – sicher wollen die Eltern in aller Regel das beste für ihr Kind, aber ist eine möglichst weitreichende „Normalisierung“ wirklich erstrebenswert? (Und in den meisten Studien zu ABA und davon abgeleiteten Methoden ist eine der Messvariablen der „optimale Outcome“ = das Kind würde keine Autismusdiagnose mehr bekommen. Weil es oberflächlich betrachtet nicht mehr autistisch wirkt.)
      Dazu gibt es auch eine sehr lesenswerte Bachelorarbeit: Von Normalisierung zur Inklusion? Eine kritische Betrachtung der Wirksamkeit der Autismus-Intervention Applied Behavior Analysis (ABA)
      Update: Mittlerweile befasst sich auch die Forschung mit dem ständigen Anpassen an die Norm. „Masking“ und „Camouflaging“ kann zu massiven psychischen Problemen führen und möglicherweise die erhöhte Suizidrate von Autisten teilweise erklären. In diesem Artikel stelle ich ein paar der Studien vor.
    • Ein häufiges Argument ist „Ohne ABA lernt das Kind gar nichts und wird auf immer ein nonverbales, kotschmierendes Etwas bleiben“. (Das ist – leider – nur leicht überspitzt formuliert.) Dazu und überhaupt zum Thema dieses Artikels empfehle ich die Blogbeiträge ABA-Therapeuten und ihre Verantwortlichkeit auf innerwelt und ABA-Rhetorik in Stichpunkten von butterblumenland.
    • Auch gerne in Diskussionen gebracht: „Du bist ja nur leicht betroffen, da kannst du nicht für frühkindliche Autisten sprechen/ hast du keine Ahnung, wie das Leben mit einem Kanner-Autisten ist“. Eine gute Erwiderung zu diesem Argument gibt butterblumenland im Artikel Mild? Scharf? Von leichtem und schwerem Autismus
    • ABA und sämtliche darauf basierende Konzepte wie z.B. ESDM, BET, MIA oder PEFA orientieren sich an den Defiziten und wollen störendes Verhalten beseitigen. Andere Ansätze legen hingegen den Schwerpunkt mehr auf die Stärken (Empowerment-Ansatz). Prof. Dr. Georg Theunissen schreibt dazu in einem Artikel zur Positiven Verhaltensunterstützung (PVU):

      Vor diesem Hintergrund ist es der Positiven Verhaltensunterstützung nicht primär an einem bloßen Abbau herausfordernden Verhaltens (Verhaltensauffälligkeiten) oder einer möglichst reibungslosen Anpassung einer Person an soziale Gegebenheiten gelegen. Vielmehr geht es um die Schaffung von Situationen, in denen ein Kind, eine Jugendliche/ein Jugendlicher oder eine erwachsene Person einen eigenen Lebensstil entwickeln und eine Persönlichkeit entfalten, sich sozial positiv einbringen und soziale Bestätigung und Wertschätzung erfahren kann.

      Auch wenn man einzelne Punkte in der PVU durchaus etwas kritisch sehen kann (vgl. auch den Artikel Fachtag Autismus mit Prof. Doc. Theunissen von innerwelt), finde ich den Empowerment-Ansatz grundsätzlich sehr gut.

      Hinweis: Das, was im Englischen als PBS (positive behavior support) bezeichnet wird, ist ziemlich komplett ABA unter anderem Namen.

Ich könnte jetzt ewig zu dem Thema schreiben, aber der Artikel ist auch so schon lang genug 😉

Daher noch ein paar Links zu Blogs, die von Eltern autistischer Kinder geschrieben werden – obwohl es bei allen deutliche Probleme und viele schwierige Situationen gibt, sind sie dennoch gegen ABA:

Außerdem noch einmal ein paar Empfehlungen zum Thema ABA, zum Leben mit Autismus und darüber hinaus:

Über gedankenkarrussel

zwischen 25 und 35, Christ, naturwissenschaftlich interessiert, Aspergerautistin im Kampf mit der Müdigkeit... (darüber schreibe ich mehr in meinem Blog https://gedankenkarrussel.wordpress.com/ )
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20 Antworten zu Was ist an ABA eigentlich so schlimm?

  1. semilocon schreibt:

    Hat dies auf Semilocon rebloggt.

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  4. Tante Jay schreibt:

    Simon Baron-Cohen ist auch nicht ganz unumstritten, freundlich ausgedrückt. Laut Baron-Cohen haben Autisten ein Empathieproblem und sind deswegen so schwierig. Seine Studien konzentrieren sich auch ganz auf den Beweis dieser Annahme, er ist alles andere als unbeeinflusst.

    Autisten sind für ihn „extrem männlich eingestellte“ Menschen. Aber immerhin Menschen, ein deutlicher Vorteil zu Lovaas. Sie denken extrem abstrakt und können deshalb auf der emotionalen Ebene nicht folgen. Therapien müssten laut ihm also hier ansetzen.

    Während ich ihm weitgehend zustimme, dass bei der Genderforschung die Ideologie Vorrang hat vor dem Sachbezug (nurture vs. nature), bin ich inzwischen der festen Überzeugung, dass er bei der Autismusforschung vollständig auf dem Holzweg ist.

    Empathie ist nicht das Problem von Autisten keiner derjenigen, die ich kennengelernt habe, hatten ein Empathieproblem.

    Aber sie hatten sehr wohl ein Problem damit, die Eindrücke zu verarbeiten und sozial adäquat zu reagieren.

    Ich sollte ihm mal schreiben 🙂

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    • gedankenkarrussel schreibt:

      Ich sehe auch nicht alles unkritisch, was Baron-Cohen schreibt. Aber er hat (zumindest meiner Wahrnehmung nach) nicht dieses ausschließlich negative Bild von Autismus, sondern sieht auch die Stärken und lehnt „normangleichende“ Therapien wie ABA eher ab.

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      • Tante Jay schreibt:

        Das stimmt. Aber seine Forschung geht halt in die falsche Richtung, weil sie sich ausschließlich auf die angeblich nicht vorhandene Empathie und die „extreme männliche Einstellung“ bezieht.

        Das tut den Autisten nichts Gutes – in den USA werden die genau deswegen inzwischen mehr oder weniger als „Dämonen“ angesehen, ABA als Werkzeug, um einigermaßen menschliche Reaktionen hervorzurufen und alles in allem sind Autisten dort Freiwild.

        Ganz übel wirds, wenn es in die Antivaxx-Szene geht. Ursprünglich hat Wakefield ja „MMR verursacht Autismus“ rausgehauen – in seiner Betrugsstudie.

        Inzwischen haben die daraus „Impfungen verursachen Autismus“ gemacht… es ist unfassbar, welchen Flurschaden dieser Mann angerichtet hat. Von Rechts wegen sollte der wegen Mordes drankommen.

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      • gedankenkarrussel schreibt:

        Ja, das Problem ist immer, was andere irgendwo rausziehen. Baron-Cohen sieht Probleme mit der Empathie, andere sind der Ansicht „ohne Empathie kein Mensch“ und schon hat man „Autisten sind keine Menschen“.
        Wobei ich auch denke, dass man in sinnvolleren Bereichen forschen könnte.

        Die Geschichte mit den Impfungen ist eh ein Unding, da hab ich mich ja auch hier schon drüber aufgeregt, insbesondere über Herrn Wakefield (Autismus, Impfungen und SSPE)

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      • Tante Jay schreibt:

        Wakefield und sein „Vaxxed“ Video *kotz*

        Ich finde die Autismusforschung jetzt nicht uninteressant und sie gibt auch durchaus Einsicht darin, wie Menschen funktionieren, wie sie denken – etwas, was durchaus nützlich sein kann.

        Aber die Schlüsse, die dann manche daraus ziehen, sind ziemlich übel, wie du sagtest: „Autisten sind keine Menschen“ – das geht inzwischen soweit, dass in den USA Eltern, die ihre autistischen Kinder töten, geringere Strafen bekommen, weil sie in einer Ausnahmesituation waren. 😦

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      • gedankenkarrussel schreibt:

        Ich finde Autismusforschung sehr spannend – aber bin z.B. auch bei Forschung zur Genetik mittlerweile sehr skeptisch, weil das Ziel dahinter ja oft ist, die Kinder am besten pränatal auszuselektieren. Oder zumindest eine „Heilungsmethode“ zu finden.

        Und dass es als „verständlich“ gilt, wenn Eltern ihr autistisches Kind töten, dazu hab ich echt keine Worte (zumindest keine, die mich nicht in Probleme bringen)… ich schwanke zwischen Wut, Traurigkeit und Fassungslosigkeit, wenn ich sowas wie Autism Memorial ansehe.

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      • Tante Jay schreibt:

        Es gibt in den USA ja „Autism speaks“. Das ist eine ABA-Promotion-Gruppe. Und die sprechen ausschließlich für die armen Angehörigen dieser Teufel. *seufz*

        Was Genetik angeht: Prä-Implantations-Diagnostik ist okay. Es ist auch okay, wenn das Kind Krankheiten hat, die es entweder nicht sehr alt werden lassen oder die dafür sorgen, dass das Kind ein Leben in der Hölle lebt. Ich denke da an den armen Jungen in England, der jedesmal, wenn etwas seine Haut berührt, sofort Bläschen bekommt, die Haut reagiert darauf wie auf eine Verbrennung 😦

        Solche Sachen zu verhindern? Ich kann daran nur wenig schlechtes sehen.

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      • gedankenkarrussel schreibt:

        Autism Speaks ist eh das letzte…

        Was die Genetik und PID/ PND angeht: Ich bezog mich da jetzt konkret auf Autismus, und das Ziel diverser Organisationen (z.B. Autism Speaks) ist es ja, Autismus „auszumerzen“ – sprich, dafür zu sorgen, dass Autisten am besten gar nicht erst zur Welt kommen. Ich sehe da definitiv einen großen Unterschied zwischen schweren Erkrankungen auf der einen Seite und z.B. Autismus auf der anderen. Autismus ist für mich kein Grund, ein Kind nicht zur Welt kommen zu lassen. Bei schweren Krankheiten wie z.B. der von dir genannten sehe ich das anders. (Wobei ich persönlich eine PID wohl nicht mit mir vereinbaren könnte, auch wenn ich die PID definitiv der PND + eventueller Abtreibung vorziehen würde. Ich würde aber wohl in so einem Fall eher auf eigene Kinder verzichten, wenn ich um das Risiko weiß – und nur wenn das Risiko vorher bekannt ist, kommt die PID ja überhaupt in Frage.)

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      • Tante Jay schreibt:

        Yup. Den Unterschied sehe ich auch. Autismus: Nicht weiter schlimm. Schwerwiegende Erbkrankheit: Sehr wohl.

        Die Kinderfrage ist bei mir ja entschieden. Ticker steht auf null 😉

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