… ist euch eigentlich klar, was ihr mit den Menschen macht, wenn ihr sie mit GdB 30 abspeist, obwohl eigentlich klar ist, dass den Leuten mehr zusteht?
Einerseits denke ich, dass es doch gar nicht möglich ist, dass jemandem das so überhaupt gar nicht klar ist – andererseits würde ich mir wünschen, dass es euch nicht klar ist, denn ansonsten würde als Schluss nur noch übrig bleiben, dass euch Menschen vollkommen egal sind.
Ich finde es komplett daneben, dass ständig alles abgelehnt oder nur in geringem Umfang bewilligt wird in der Hoffnung, dass die meisten sich schon nicht wehren (können).
Ich habe schon beim Antrag und noch ausführlicher beim Widerspruch begründet, worin die Einschränkungen bestehen und wie diese zu den Kriterien in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen passen; auch habe ich meine Aussagen mit Verweisen auf die entsprechenden Stellen in Arztbriefen belegt. Allerdings frage ich mich irgendwie, ob das Schreiben überhaupt gelesen wurde… (Dass ihr auch Stellungnahmen meiner Ärzte angefordert hattet, die klar von „schweren“ Einschränkungen schrieben, erwähne ich mal nur nebenbei.)
In den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen steht:
Bei tief greifenden Entwicklungsstörungen
– ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 10-20,
– mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 30-40,
– mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 50-70,
– mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 80-100.
Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie zum Beispiel Regel-Kindergarten, Regel-Schule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (zum Beispiel durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen. Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (zum Beispiel einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist. Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist.
Die vermutlich beliebteste Begründung bei autistischen (oft spätdiagnostizierten) Erwachsenen ist „Sie kommen ja ohne Unterstützung zurecht“.
Dabei wird geflissentlich ignoriert, dass dort steht „zum Beispiel“ und „insbesondere“. Liebe Versorgungsämter, diese kleinen Wörtchen sagen genau aus, dass es sich nicht um eine abschließende Aufzählung handelt!
Und bitte bedenkt: Wie sollte man Hilfen beantragen, wenn man keine Diagnose hat? Und wer sagt, dass beantragte Hilfen dann genehmigt werden?
Mein Gutachter schrieb unter anderem, dass die Beeinträchtigungen dadurch deutlich werden, dass ich einen „gemessen an meinen Voraussetzungen geringen sozio-ökonomischen Status“ habe. Also dass ich zwar ein sehr gutes Abitur und auch irgendwie einen Studienabschluss geschafft habe, dass aber ohne die Einschränkungen letzterer wesentlich besser ausgefallen wäre und ich vermutlich schon lange arbeiten würde (statt für den Master mehr als die doppelte Regelstudienzeit zu brauchen).
Ja, ich habe Schule und das erste Studium ohne offizielle Hilfen oder Nachteilsausgleiche geschafft. Ich habe halt „nur“ im Studium schlechtere Leistungen erbracht als von meinem Intellekt her möglich gewesen wären und für vieles brauche ich deutlich länger. Im Erststudium habe ich mit aller Gewalt versucht, regulär zu studieren – das endete im totalen Zusammenbruch und einer im ersten Anlauf nicht bestandenen Abschlussprüfung, wodurch schlussendlich die Diagnostik angestoßen wurde. Und ich habe einige Prüfungen im ersten Anlauf nicht bestanden, weil ich nicht hingegangen bin, da es mir zuviel wurde – denn ich hatte ja mangels Diagnose keine Möglichkeit, als Nachteilsausgleich einen späteren Prüfungstermin zu beantragen.
Im Übrigen hatte ich zwar keine offiziellen Hilfen, aber mir wurde im Nachhinein klar, dass ich ohne Unterstützung der einen guten Freundin vermutlich heute noch nicht meinen Abschluss hätte, denn nur durch sie bekam ich eine Strukturierung in den Stoff und wenigstens den Hauch einer Ahnung, was denn nun relevant ist und was nicht.
Die Unterstützung meiner Eltern in vielen Alltagsdingen war für mich selbst mit Anfang und Mitte zwanzig noch essentiell, aber auch diese Tatsache interessiert bei euch wohl keinen.
Und und und, ich hatte euch das ja wirklich sehr ausführlich geschildert. Es bleibt dabei: Nur weil es keine Leistungen der Eingliederungshilfe o.ä. gab, heißt das noch lange nicht, dass keine Unterstützung nötig war oder gewesen wäre.
Mal ganz davon abgesehen, wie es mir psychisch in all den Jahren ging und was es alles an sozialen Problemen in der Kindergarten- und Schulzeit gab.
Genauso ist mir durchaus bekannt, dass zwar Einzel-GdB nicht addiert werden, dass aber berücksichtigt werden muss, wenn verschiedene Diagnosen sich gegenseitig beeinflussen. Ich habe nicht nur zum Spaß geschildert, wie sich Schlafstörungen und Müdigkeit auf meine Kompensationsfähigkeit und meine Stimmung auswirken…
Und was soll eigentlich der Unsinn, bei Antrag und Widerspruch die Unterlagen teilweise an völlig ungeeignete Gutachter zu geben? Der Hausarzt, den ihr bei mir ausgewählt habt, mag ein guter Arzt sein (keine Ahnung, ich kenne ihn nicht) und er hat auch mein (leichtes) Asthma zutreffend nur mit GdB 10 bewertet, aber es ging aus den Unterlagen sehr klar hervor, dass die Probleme hauptsächlich durch Autismus, Depressionen und Schlafstörungen sowie Müdigkeit verursacht werden. Wäre da nicht ein Psychiater der passendere Gutachter gewesen?
Zumindest das Sozialgericht war offenbar dieser Ansicht, denn es wurde ein Psychiater als Gutachter benannt.
Ich nehme an, dass es euch auch nicht zu denken gab, dass dieser schrieb „es ist nicht nachvollziehbar, warum … Die Kriterien … lassen hier zweifelsfrei nur eine andere, deutlich höhere Eingruppierung zu“, obwohl es laut meinem Anwalt selten vorkommt, dass ein Gutachter so etwas dermaßen deutlich schreibt.
Mal abgesehen von der offenbar sehr selektiven Lesekompetenz des erwähnten Hausarztes, der zwar das „Verdacht auf Asperger“ im Brief eines Facharztes sah und ins Gutachten aufnahm, aber irgendwie völlig ignorierte, dass kurz nach diesem Schreiben die Diagnose bestätigt wurde. (Aber so ein fünfseitiges Schreiben der Fachambulanz kann man natürlich schon mal übersehen…)
Dass dann nach dem Widerspruch Asperger zwar ohne „Verdacht auf“ genannt, aber vom begutachtenden Internisten mit GdB 0 bewertet wurde, war dann echt die Krönung des ganzen.
Ist euch klar, wie viel Kraft und Nerven es kostet, einen Widerspruch zu schreiben? Dass diese Schreiberei und das Einsammeln weiterer Schriftstücke mich locker 2-3 Wochen so weit blockieren kann, dass ich gar nichts mehr hinbekomme, obwohl ich vielleicht dringend etwas für mein Studium tun müsste?
Ist euch klar, wie verarscht (sorry) man sich fühlt, wenn man liest „GdB 30 = leichte Einschränkungen“, während man gerade nur 1-2 Vorlesungen hört statt der vorgesehenen 7-8, kaum ein Sozialleben hat und schon froh ist, wenn man es schafft, zweimal täglich etwas zu essen? Während man stundenlang todmüde wach liegt und tagsüber dann total erledigt ist?
Ist euch klar, dass auch eine rückwirkende Geltung nicht alle durch die Verzögerung entstandenen Nachteile ausgleicht, insbesondere wenn es um ein Merkzeichen wie B geht oder um Ansprüche, die verjähren oder gleich gar nicht rückwirkend geltend gemacht werden können? (Ja, ich fürchte, letzteres ist euch klar und einer der Gründe für diese Spielchen…)
Bei mir ist das zum Glück nicht mehr aktuell, ich habe dieses Jahr nach 3 Jahren meinen SBA erhalten – nach einer Klage. Aber jedes Mal, wenn ich auf Twitter wieder vom Kampf lese, den andere gerade mit Versorgungsämtern ausfechten, werde ich stinksauer. Nur weil wir in aller Regel nicht im Rollstuhl sitzen, heißt das nicht, dass keine Einschränkungen da sind! Wobei ihr es ja selbst bei diesen noch fertigbringt, mit teils sehr kreativen Begründungen nur einen geringen GdB zu vergeben und Merkzeichen abzulehnen…
Immerhin hattet ihr bei mir ja die Weisheit, nach dem vom Sozialgericht angeordneten Gutachten den Anspruch anzuerkennen und die Kosten zu übernehmen, sodass wir die Klage zurückziehen konnten. So bekam ich sogar die Selbstbeteiligung von der Rechtsschutzversicherung zurück.
Es sollte euch wirklich zu denken geben, wie viele Klagen erfolgreich sind. In meinem natürlich nicht repräsentativen Umfeld (hiesige Selbsthilfegruppe) waren es 100%.
Aber klar, man kann immer noch auf unfähige Gutachter und ignorante Richter hoffen, wenn jemand klagt – und vor allem darauf, dass die Leute nicht die Kraft und Zeit für den Kampf haben und möglichst auch keinen Rechtsbeistand finanzieren können, der es ihnen erleichtert und eure Tricks vielleicht besser durchschaut.
Ihr solltet euch schämen, uns noch zusätzlich so unnötige Belastungen zu verschaffen und uns einmal mehr vor Augen zu führen, wie egal anderen Menschen die (meist nicht sichtbaren) Einschränkungen sind. Oder würdet ihr wollen, dass man mit euch so umgeht?
(Der Text gilt analog natürlich auch für Jugendämter, Sozialämter, Krankenkassen und sonstige Behörden und Kostenträger.)
Hat dies auf Semilocon rebloggt und kommentierte:
Mein persönlicher Verlauf: Diagnose, angedacht 50 GdB -> Versorgungsamt ignoriert den Befund, zieht sich 30 GdB ausm Arsch -> Widerspruch -> abgelehnt, „geh doch klagen“. Nach dem Umzug probiere ich es dann nochmal, war jetzt das Versorgungsamt Sachsen.
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Hat dies auf Elodiylacurious rebloggt und kommentierte:
Ich bin übrigens eine derjenigen, bei denen Gedankenkarussel dieses Spiel einmal mehr verfolgen darf.
Erster Antrag; GdB 30. Obwohl das letzte ärztliche Gutachten eindeutig „mittlere soziale Anpassungsstörungen“ sagt, also ist wenigstens eine 50 angebracht. Der Widerspruch erging letzte Woche …
[Wahrscheinlich schreibe ich noch die Tage was eigenes dazu]
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